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Corona und Klimawandel : Der Charme des Verzichts

In diesem Corona-Jahr war der Verzicht auch durch die Pandemie bedingt. Bild: dpa

Ob Pandemie oder Klimawandel: Ständig werden die Menschen zum Verzicht aufgefordert. Warum ist die Askese seit Jahrhunderten eine Idealvorstellung? Und lässt sie sich heute verwirklichen?

          7 Min.

          Es gibt etwas, das haben Kindergärten und SUVs gemeinsam mit ausschweifenden Geburtstagspartys und einem gut gewässerten Rasen im Sommer. Auf all dies sollten die Deutschen verzichten, entsprechende Aufrufe gab es in diesem Jahr genügend. 2020 war das Jahr, in dem der Verzicht seinen großen Durchbruch hatte. Nicht nur die Pandemie war schuld, auch der Klimaschutz und die sommerliche Dürre trugen ihre Teile bei – und anfangs hielten sich auch viele Menschen daran.

          Patrick Bernau

          Verantwortlicher Redakteur für Wirtschaft und „Geld & Mehr“ der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

          Schließlich hat der Verzicht schon lange einen guten Ruf. Sich freiwillig etwas zu versagen, das man problemlos haben könnte – das strebt die Menschheit seit Jahrhunderten an. So gewichtig ist das Ziel, dass Klimaschützer und Epidemiologen, ja sogar besorgte Manager der örtlichen Wasserwerke ohne weiteres Nachdenken an diese Norm appellieren. Sie haben ja auch bedeutende Vorgänger. Gandhi und Buddha zum Beispiel, Jesus und Kant. Verzichtstraditionen sind seit Jahrhunderten Teil praktisch jeder großen Philosophie und Weltreligion. Schon mehrere hundert Jahre vor Christus stellte Aristoteles fest, dass man es mit dem Konsum auch übertreiben könne. „Besonnenheit“ forderte er vom tugendhaften Menschen, der sollte auch mal auf etwas verzichten. Spaß macht das allerdings nicht.

          Schließlich weiß die Menschheit schon lange: Etwas nicht zu haben ist schade, aber viel trauriger es ist, wenn man etwas schon besitzt und dann abgibt. Oder wenn man etwas in Aussicht hat und dann doch darauf verzichten muss. Stellen Sie sich mal vor, Sie bekommen unverhofft 10.000 Euro geschenkt. Das ist eine Freude. Schon denken Sie darüber nach, was Sie mit dem Geld anfangen können. Doch dann erfahren Sie, dass Sie es wieder abgeben müssen. Das tut so weh, dass die meisten Menschen das Geld lieber erst gar nicht bekommen hätten. Dieses Gefühl lässt sich beziffern: Der Verlust wiegt ungefähr zweieinhalb mal so schwer wie der Gewinn. Das heißt: Selbst wer 10.000 Euro bekommt und davon nur 5000 wieder abgeben muss, kann sich über das Geschenk meistens nicht mehr freuen.

          Wie konnte der Verzicht zum universellen Ziel der Menschheit werden?

          Wie konnte also ein Vorhaben, das so wenig Freude bringt, zu so einem universellen Ziel der Menschheit werden? Und reicht das, um große Herausforderungen zu bewältigen? Ein Teil der Antwort sei schon verraten: Die Popularität des Verzichts kommt auch daher, dass er keinen Spaß macht. Und das kann zum Problem werden. Aber dazu kommen wir noch.

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          Die Reise zum Verzicht beginnt in den sechziger Jahren ein paar Kilometer südlich von San Francisco. Das Silicon Valley ist noch längst nicht das Zentrum der Informationstechnik, zu dem es später einmal werden wird. Aber die Universität Stanford gibt es schon, und sie hat einen Kindergarten für ihre Mitarbeiter. Den besucht gelegentlich der Psychologe Walter Mischel, und wenn er vorbeikommt, dann gibt er den Kindern eine einfache Aufgabe: Er legt jedem ein Marshmallow oder einen Keks hin, verlässt den Raum und verspricht: Wenn er in einigen Minuten zurückkommt, schenkt er jedem ein zweites – aber nur, wenn das erste noch nicht gegessen ist.

          Das war ein einfacher Test, ob die Kinder auf etwas Naheliegendes verzichten können, um später mehr zu bekommen. Interessant wurde er 20 Jahre später. Dann stellte sich heraus: Wenn Kinder auf das zweite Marshmallow warten konnten, erreichten sie als Erwachsene höhere Bildungsabschlüsse, kamen leichter mit Stress zurecht, führten bessere Beziehungen zu anderen Menschen und waren sogar schlanker als andere – die Beschreibung ihrer Leben zeichnet geradezu ein Klischee von Erfolg.

          Der Marshmallow-Test zeigt einen Nutzen des Verzichts

          Der Marshmallow-Test ist berühmt geworden. In den vergangenen 50 Jahren ist er gelegentlich angezweifelt worden, aber noch öfter haben sich seine Ergebnisse in Wiederholungen bestätigt. Psychologen sind sich nur nicht ganz sicher, ob man Kinder wirklich zum Verzicht erziehen kann. Vielleicht können schlaue Kinder das von vornherein besser. Sicher ist jedenfalls: Manchmal muss man verzichten, um später etwas mehr für sich selbst zu erreichen. Die Fähigkeit dazu ist eng verwandt mit der Geduld, und von ihrer Nützlichkeit weiß jeder, der schon mal eine Party verpasst hat, um für eine Klausur zu lernen, oder Geld investiert hat, anstatt es direkt auszugeben.

          Ausführlich beschrieben hat dieses Prinzip der Soziologe Max Weber, nachdem er im frühen 20. Jahrhundert Amerika bereist und die Quellen des dortigen Wohlstandes untersucht hatte. „Innerweltliche Askese“ nannte er diese Einstellung, in der sich kapitalistischer Geist und protestantische Ethik trafen.

          Warum Fasten und Detox so beliebt sind: die hedonistische Tretmühle

          Mit dieser Geschichte muss man allerdings den Minimalisten von heute nicht kommen. Den hippen Städtern, die in ihren Wohnungen kaum ein Möbelstück haben. Den Hollywood-Stars mit ihren Detox-Kuren. Die mögen zwar manchmal auch zum Abnehmen dienen, aber wenn der Akademiker vor Ostern sieben Wochen auf Alkohol verzichtet, dann muss es dafür einen anderen Grund geben. Der hat zu tun mit der sogenannten „hedonistischen Tretmühle“.

          Reduzierte Weihnachten.
          Reduzierte Weihnachten. : Bild: www.plainpicture.com

          Die ist schnell beschrieben, zum Beispiel mit einem gutem Rotwein. Der ist anfangs etwas Besonderes. Wer den Rotwein mag, trinkt ihn noch mal und noch mal, immer öfter und öfter. Allmählich wirkt der Wein nicht mehr so exklusiv, die Freude nutzt sich ab. Im Extremfall können solche Mechanismen zur Abhängigkeit führen. Aber man muss nicht gleich an Sucht denken, um festzustellen: Wer mal auf das eine oder andere verzichtet, das ihm ans Herz gewachsen ist, der kann aus der hedonistischen Tretmühle entfliehen und lernt den Genuss eher wieder zu schätzen.

          Kann man auch für andere verzichten?

          In beiden Fällen aber bringt der Verzicht den Menschen selbst unmittelbare Vorteile, wenn auch vielleicht etwas später. Anders ist die Lage im Klimaschutz, teils auch in der Pandemie. Da ist der Zusammenhang zwischen eigenem Verzicht und eigenem Nutzen doch deutlich lockerer. Ob die Krankenhäuser leer und das Weltklima kühl bleibt, das hängt doch mehr vom Verhalten aller ab als vom eigenen. Gibt es trotzdem eine Motivation zum Verzicht?

          An moralischen Appellen herrscht jedenfalls kein Mangel. In der Philosophie hat sich der Verzicht schon vom eigenen Vorteil gelöst und ist zum Ziel an sich geworden. Der Philosoph Christian Neuhäuser findet solche Haltungen in weiten Teilen der Geistesgeschichte. „Das hat sicherlich mit der alten, bereits antiken und christlichen tugendethischen Perspektive zu tun, dass ein gutes Leben die Kontrolle der unmittelbaren Triebe, Wünsche und Bedürfnisse voraussetzt. Da ist ja auch was dran.“ Seine Kollegin Nora Heinzelmann erinnert daran: Auch Immanuel Kant und die Gesinnungsethiker argumentieren, dass schon die reine Einsicht in die Notwendigkeit reichen sollte, um den Menschen zum Richtigen zu bewegen.

          Reicht das schon? Es ist jedenfalls schwierig.

          Verzicht für andere: Dazu braucht es oft eine Religion

          Einen Umstand kennen Psychologen, in dem sich Verzicht ohne individuellen Vorteil durchgesetzt hat. Das ist die Religion. Viele Glaubensgemeinschaften verlangen Verzicht: Im Islam ist Schweinefleisch verpönt, in der katholischen Kirche sollen Priester und Mönche sexuell enthaltsam leben, die Amischen verzichten auf eine Menge an moderner Technik. Je kleiner die Sekte, desto größer die Auflagen. Von alldem haben die Gläubigen selbst erst mal wenig, wenn auch nicht gar nichts: Entschädigt werden sie durch die Hoffnung auf ein besseres Leben nach dem Tod.

          Doch es nützt der Gruppe. Wenn die von ihren Mitgliedern Verzicht verlangt, hat sie länger Bestand. Durch den Verzicht zeigen die Gläubigen nämlich, dass sie es ernst meinen und für die gemeinsame Sache kämpfen. Gleichzeitig stärkt der Verzicht die Bindung der Gläubigen an ihre Religion. Das lässt sich sogar auszählen. 83 Zusammenschlüsse zu Kommunen in den Vereinigten Staaten untersuchte der Anthropologe Richard Sosis: Kommunen mit religiöser Basis hatten länger Bestand als solche mit weltlicher Ideologie. Und je mehr Verzicht die religiösen Kommunen einforderten, desto länger hielten sie.

          So eine Art des Verzichts, das wissen Psychologen, ist oft mit geradezu missionarischem Eifer verbunden. Das hat nicht nur damit zu tun, dass religiöse Motive angesprochen werden – es hat auch damit zu tun, dass Menschen es nur schwer verwinden können, wenn sie fürs Allgemeinwohl auf etwas verzichten und die anderen nicht. Man fühlt sich dann schnell wie der Dumme.

          So kommt es, dass Klimaschutz-Forderungen dem religiösen Eifer manchmal sehr ähneln. Und dass sich Galionsfiguren der Klimabewegung umgekehrt oft dafür rechtfertigen müssen, dass sie noch in den Urlaub fliegen – weil andere ihnen dann unterstellen, dass sie von ihrem Anliegen nicht wirklich überzeugt sind. So kommt es auch, dass die Debatte um Maskentragen und Kontaktverzicht manchmal zur Spaltung führt, zu einem „Wir gegen die“-Gefühl.

          Verzicht war schon immer ein Projekt für die Eliten

          Das Problem: Ohne diesen Überbau fällt den Menschen der Verzicht eben doch schwer. Die Züricher Psychologin Katharina Bernecker hat gerade erst nachgewiesen, dass man für ein zufriedenes Leben die Selbstkontrolle manchmal auch aufgeben muss – sich auch mal auf die Couch setzen und eine Serie gucken, statt immer nur zu lernen, zu arbeiten oder zu putzen.

          Und: Der Verzicht kann die Wertschätzung für das Selbstverständliche erhöhen, das ist ja der Sinn der ganzen Fastenkuren. In Corona-Zeiten führt das dazu, dass der erste Lockdown für viele Menschen noch ein Abenteuer war, Phantasien vom einfacheren Leben blühten sogarauf. Doch danach finden viele Menschen das Entgangene noch viel wichtiger als vorher, nicht zuletzt die Sozialkontakte. Der Verzicht wird also immer schwieriger.

          Da passt die Pandemie zu den Erfahrungen, die man schon vor 50 Jahren sammeln konnte. Gesammelt hat sie Carl Friedrich von Weizsäcker, Physiker und Philosoph und in den 70er-Jahren Direktor eines Max-Planck-Instituts, in dem er an der Friedenserhaltung und der Umweltzerstörung forschte. Zu jener Zeit fragte er in einem Essay: „Gehen wir einer asketischen Weltkultur entgegen?“ Zunächst stellt Weizsäcker fest, dass Selbstbeherrschung, Askese und Verzicht historisch eher von den Eliten erwartet worden sei als von der breiten Masse.

          Das kann mehrere Gründe haben. Weizsäcker bemerkt, dass die Eliten schon früher „vom Zwang selbsterhaltender Arbeit freigestellt waren“ und dass sie „der Selbstbeherrschung zur moralischen Selbsterhaltung bedurften“. Nach diesem Kriterium müssten heute viele Menschen Selbstbeherrschung walten lassen, vom Zwang selbsterhaltender Arbeit sind ja viele Leute freigestellt. Vielleicht aber waren die Eliten früherer Jahrhunderte schlicht die Leute, die als Kinder einen Marshmallow-Test bestanden hätten.

          Verzicht war immer eher Utopie als Realität

          Verräterisch ist jedenfalls, dass praktisch jede große Philosophie der Menschheitsgeschichte den Verzicht einfordert, wie Weizsäcker feststellt. Die Realität sei eher eine andere gewesen, darum sei sie ständig kritisiert worden. Selbst in der Systemkonkurrenz der siebziger Jahre fand Weizsäcker, dass sich beide Systeme als unfähig zur demokratischen Askese erwiesen hätten: „das Marktsystem, weil es nicht asketisch, das Plansystem, weil es nicht demokratisch ist“. Seine Folgerung: „Wir dürfen nicht auf die Durchsetzung demokratischer Askese warten.“

          Und so läuft die Praxis der Pandemie in diesen Tagen. In Deutschland grassiert nicht nur das Coronavirus, sondern auch die Lockdown-Müdigkeit. Selbst im relativ harten Lockdown, der in der vergangenen Woche begonnen hat, halten viele immer noch Kontakt zu ihren Freunden. Ein nennenswerter Anteil von Büroarbeitern bleibt nicht mehr im Homeoffice, weil ihnen der Verzicht auf menschliche Begegnungen zu viel geworden ist. Obwohl heute sehr ähnliche Regeln gelten wie im Lockdown des Frühlings, sind die Menschen deutlich mobiler – der Verzicht hat es offenbar schwer, sich durchzusetzen.

          Und das ist das traurige Fazit: Verzicht ist zu schaffen, wenn man selbst etwas davon hat. Wenn nicht, dann haben es Verzichtsappelle in der säkularen Demokratie schwer. Wirksame Politik sucht vielleicht lieber nach anderen Wegen.

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